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Liebe Herausgeberinnen des Hexengeflüsters,
liebe Christine Ewert, Gaby Karsten, Dagmar Schultz
und liebe Joan Murphy.

Wir haben uns entschieden, euch einen Brief zu schreiben. Einen Brief, um auf die Beziehung zwischen uns und euch einzugehen, die ja zunächst keine offensichtliche ist.

Auf dem Cover des Hexengeflüsters neigt sich eine ältere Frau zu einer Jüngeren, der sie etwas ins Ohr flüstert. In unserem Treffen in der Recherchebibliothek zur Gesundheitsbewegung 2016 haben wir zwei Frauen aus den Anfängen des Feministischen Frauengesundheitszentrums Berlin (FFGZ) getroffen, dich, Dagmar, und dich, Joan (1). Aus diesem Treffen wissen wir, dass die alte Frau deine Grossmutter ist, Dagmar, die der Jüngeren "Schafskopf! Schafskopf!" ins Ohr flüstert. Sie wusste wohl, dass sie für ein Titelbild posierte - und hatte nichts dagegen, auf dem Cover eines Selbsthilfebuchs zu stehen. Diese Weitergabe von Wissen von einer Generation zur nächsten, die gegenseitige Unterstützung zwischen Generationen und ihre möglichen Formen, interessieren uns sehr.

Wenn wir durch das Hexengeflüster blättern, das wir bei unseren ersten Recherchen zufällig entdeckten, dann ist es, als hättet ihr uns Briefe geschrieben. Anhand dieser Briefe lernen wir über die Zeiten des Aufbruchs zur Selbsthilfe in den 70er Jahren, über die Praxen, die ihr erprobt und die Einflüsse, von denen ihr gelernt sowie von den Strukturen, die ihr aufgebaut habt. Im FFBIZ konnten wir durch die frühen Korrespondenzen des FFGZ stöbern, Entwürfe, Matrizen, Abschriften, getippte Leserinnenbriefe mit Anstreichungen lesen, die ersten Ausgaben der Clio und das Eröffnungsheft (Jetzt helfen wir uns selbst!) des ersten Feministischen Frauengesundheitszentrums in Europa anschauen, das ihr als Konsequenz aus der Arbeit am Hexengeflüster gegründet habt.

Das Hexengeflüster bündelt Wissen und Materialien für die Frauen*- und Gesundheitsbewegung, es enthält praktische Untersuchungsanleitungen, Fragebögen, Fotos, Zeichnungen, Tabellen und Mittel zur Aufklärung und Recherche. Es ist Informationssammlung, Toolbox und Handbuch zugleich. In eurem Vorwort berichtet ihr von dem Besuch zweier US-amerikanischer Feministinnen aus dem Feministischen Frauengesundheitszentrum in Los Angeles, die mit euch zum ersten Mal gynäkologische Selbstuntersuchungen machten und euch anregten, sie selbst zu versuchen. Sie erzählten, wie sie zur Selbsthilfe gekommen waren und welche Aktivitäten daraus entstanden waren: "Gründung von Gesundheitszentren für Selbsthilfe, gynäkologische Behandlung, Schwangerschaftsabbruch, Forschung, Verbreitung von Selbsthilfe durch Literatur und Selbsthilfe-Einführungen in Betrieben, Büros, Schulen, Frauenzentren; öffentliche kritische Auseinandersetzung mit Bevölkerungspolitik, mit dem Gesundheitssystem und mit der Pharmaindustrie." Das alles habt ihr mit Gründung des FFGZ und mit Herausgabe der Clio - der Zeitschrift für Frauengesundheit - gemeinsam in die Tat umgesetzt.

Wir finden viele Ähnlichkeiten, mit euch, in dem, wie und wozu wir uns zusammengefunden haben und was wir heute tun. In der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe, die aus Alice Münch, Julia Bonn und Inga Zimprich besteht, recherchieren und entwickeln wir selbstermächtigende, feministische Perspektiven auf Gesundheit. Wir besuchen Gruppen, Institutionen und Initiativen, die Alternativen im Gesundheitssystem aufgebaut haben und treffen Protagonist*innen der Gesundheitsbewegung. Zugleich bauen wir eine Recherchebibliothek auf und veröffentlichen unsere Recherchen in thematische Heften, die wir herausgeben. Wir erproben Methoden und Übungen in der Gruppe und geben sie in Workshops weiter. In unseren Workshops mit Aktivist*innen, Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen begegnet uns immer der drängende Wunsch nach feministischen Arbeitsweisen, nach gegenseitiger solidarischer Sorge und nach einem Durchbrechen zerstörerischer Selbstausbeutung, krankmachender Selbstmobilisierung und Konkurrenz untereinander.

Die Arbeit in unserer feministischen Gesundheitsrecherchegruppe bedeutet, sich annähern, sich vertraut machen, sich in Bezug setzen und Bündnisse eingehen. Gefundenes und Gelerntes in Beziehung bringen zu eigenen Erfahrungen und gemeinsam Wege suchen und Methoden entwickeln, selbstermächtigendes Lernen zu gestalten. Durch unsere Arbeitsweise erfahren wir von euch. Wir lesen auch zwischen den Zeilen von euren Fragestellungen, Gruppenprozessen, methodischen Entscheidungen und strukturellen Konsequenzen. In unserer Arbeit sind die Briefe, die wir heute von euch lesen können, wichtige Ratgeber*innen. Sie sind die Frau, die sich uns zuwendet und uns ins Ohr flüstert. Sie sind Rat und Ermutigung, Ressource und Ansporn zugleich.


Dafür danken wir euch und euren Mitstreiter*innen.


Alice, Inga, Julia
Feministische Gesundheitsrecherchegruppe Berlin

(1) https://www.mixcloud.com/rebootfm/gesundheitsbewegungsradio-sendung-1-2016-09-02/